Vision der Energieavantgarde Anhalt „Eine Reise ins Jahr 2025“

23. September 2016

Anhalt Bitterfeld 2025
Vision der Energieavantgarde Anhalt „Eine Reise ins Jahr 2025“

Bearbeiterteam:

Autorin: Dr. Susanne Schön- inter 3 GmbH – Institut für Ressourcenmanagement,

Team – Energieavantgarde Anhalt

Vorgetragen zum : ENERGIEFORUM #EINS


Das energieavantgardistische Anhalt:

Stellen Sie sich mal folgendes vor:

 

Sie haben einen alten Kumpel, der kurz nach der Wende nach Kanada gegangen ist. Der hat Sie vor zwei Wochen angerufen und Ihnen erzählt, er hätte innerhalb kürzester Zeit jetzt schon zum dritten Mal einen Bericht über Bitterfeld-Wolfen und dieses regionale Energiesystem dort gesehen. Und nun wolle er die Gelegenheit beim Schopf packen und seine Dienstreise nach Amsterdam mit einem Besuch in seiner alten Heimat Anhalt verbinden – ob Sie ihn mal durch Bitterfeld-Wolfen führen und ihm dieses regionale Energiesystem zeigen könnten? Das würde er sich doch gerne mal vor Ort angucken.

Naja, haben Sie sich gedacht. Eigentlich nicht, aber was will man machen.

Und so haben Sie ihn am frisch fertig gestellten BER abgeholt und sind gerade auf der A9 kurz vor der Ausfahrt 12 Bitterfeld-Wolfen.

Unterwegs hat er sich auf seinem Tablet schon Bitterfeld von oben angeguckt: Oh, sagt er, eine blaue Stadt, fast überall PV-Anlagen. Ja, sagen Sie, außer den weißen Tupfern: das sind die Kleinwindanlagen. Aber auch viel grün, sagt er. Hm, brummen Sie, wirst Du gleich sehen, was es damit auf sich hat.

Eigentlich war Ihre Idee ja, einen dieser Typen vom Reisewerk zu buchen, die jetzt ununterbrochen Besuchergruppen aus der ganzen Welt durch Anhalt schleifen und das regionale Energiesystem erklären, aber die waren ausgebucht. Also los.


„So, das ist der Schweinemarkt, jetzt stellen wir hier erstmal die alte Dieselschleuder ab und holen uns einen von den kleinen Elektroflitzern. Kann jeder benutzen, der die Mobilitätsflatrate Anhalt bezahlt: Bahn, E-Bus, E-Bike, E-Auto – alles inklusive. Die sind immer geladen, weil sie auch als Stromspeicher benutzt werden. Hier in Anhalt sind nämlich so viele Erneuerbare Energie-Anlagen installiert, dass wir auch in dunklen und windstillen Zeiten genug Strom produzieren. Heißt aber, dass wir in anderen Zeiten dann Überschussstrom haben.“

Und den verkauft Ihr dann an die Tschechen, was?“

„Nee, den speichern wir in Privat-PKWs, in den Firmenflotten, in den elektrischen LKWs vom Stadthof, in Batterien und weiß Gott noch, wo alles. Außerdem machen wir dann Wärme draus.“

Wärme? Wie bei den alten Elektrospeicherheizungen?“

„So ähnlich. Bei den alten Heizungsanlagen wurde ein günstiger Heizstab nachgerüstet. Du musst dir das wie einen Tauchsieder vorstellen, der in deinem Wärmespeicher installiert ist. Die Stadtwerke haben sowas in der Art in Groß und speisen damit die Fernwärmenetze. Und das Stickstoffwerk in Wittenberg, die SKW Piesteritz, die nutzen auch den Überschussstrom, bei ihrer Düngemittelproduktion – die sind da flexibel.

Aber ich wollte Dir erstmal was anderes …“

Was ist denn das da?“

„Das ist eine PV-Folie, die auf der Hauswand klebt, erzeugt auch Strom, genau wie die PV-Module an den Balkonen da drüben.

Aber jetzt machen wir erstmal eine kleine Rundtour, damit Du einen Eindruck vom Stadtbild kriegst – da hat sich nämlich viel verändert, und ich meine nicht im Vergleich zu 1990 sondern im Vergleich zu 2015.

So, jetzt fahren wir erst mal von Bitterfeld nach Wolfen. Rechts und links von der Straße siehst Du überall diese Hecken, das sind Kurzumtriebsplantagen, Energieholz, wächst 4 Jahre, wird dann abgeholzt, gehäckselt, getrocknet und in den Quartiersheizungen verfeuert.“

Was sind Quartiersheizungen?“

„Quartiersheizungen haben die Wolfener fast alle, sowohl hier in den Gartenstadtvierteln als auch in Wolfen-Nord. Heißt, dass nicht mehr jeder mit seiner eigenen Heizungsanlage vor sich hin feuert, sondern dass ganze Quartiere mit eins, zwei, drei Anlagen mit Wärme versorgt werden. Die Anlagen werden so ausgelegt, dass die Wärme reicht und produzieren dann auch noch Strom – quasi als Abfallprodukt.“

Und wem gehören diese Heizungsanlagen?“ 

„Ist unterschiedlich: einige gehören den Stadtwerken, andere den Wohnungsbaugesellschaften, und einige gehören auch mehreren Häuslebesitzern, die sich zusammengetan haben.

Bei den PV-Anlagen ist das übrigens ganz ähnlich: Einige gehören Privatleuten oder Firmen, andere den Stadtwerken, und wieder andere Genossenschaften.“

„Was für ein Aufwand! Und deshalb kommen die aus der ganzen Welt hierher? Um sich das anzugucken?“

„Nee, die meisten kommen wegen den bunten Blühstreifen an den Straßenrändern.

Kleiner Scherz. Nee, die kommen aus aller Welt, weil wir es geschafft haben, den ganzen Aufwand systematisch zu verringern und ein Geschäft daraus zu machen und weil es das Klima rettet. Wobei man kein Idealist sein muss, um bei der Sache mitzumachen.“

Das mit dem Geschäft funktioniert doch aber nur für einige – normalerweise.“

„Tja, siehste, das ist hier eben nicht normal, sondern ganz und gar unnormal. Hier zum Beispiel, am Rathaus: Siehst Du den großen Monitor?“

Ist ja nicht zu übersehen. Sieht aus wie eine Mischung aus U-Bahn-Plan und          Kraftwerksschaltwarte.“

 „Und genau das ist es auch. Hier kann man sehen, wie die in Anhalt erzeugte Energie für Strom, Wärme und Verkehr genutzt wird.

Und jeder, der Energie bereitstellt, profitiert davon: vom Mieter, der über die Mietersolaranlage Nebenkosten einspart, über die Stadtwerke, die viele der dezentralen Strom- und Heizungsanlagen betreiben, bis zu den Gartenbaubetrieben, die die Energieholzplantagen bewirtschaften, aber auch der Chemiepark Bitterfeld und andere Gewerbebetriebe verdienen mit ihrer Abwärme, die sie jetzt in die Nahwärmenetze einspeisen.“

Und wer verdient noch an Euerm Energiesystem?“

„Jeder, der dabei hilft, Angebot und Nachfrage nach Energie hier in der Region in der Balance zu halten – denn darum geht es ja: Das so gut wie möglich hier in Anhalt zu regeln und nicht wie früher Heizöl, Erdgas, Strom und Benzin  über weite Strecken zu transportieren, wobei wir zahlen und anderswo verdient wird.

Hier zum Beispiel der Edeka an der Ecke – also genauer gesagt alle Edekas in Anhalt. Wir haben doch in Ferropolis jedes Jahr dieses MELT!-Festival, schon mal gehört? Die brauchen da in den drei Nächten so viel Strom wie eine Kleinstadt – jede Nacht wohlgemerkt. Das haben die jetzt so geregelt, dass in den drei Nächten reihum bei allen Kühlhausbesitzern für eine bestimmte Zeit der Strom abgestellt wird – das macht den Kühlhäusern gar nix, und beim Festival können sie mit dem Strom so hell und laut machen wie sie wollen. Umgekehrt betreibt Ferropolis eine PV-Anlage, die ungefähr so viel Strom wieder ins regionale Netz einspeist – aber eben über das ganze Jahr verteilt. Und weil die Edekas nicht von sich aus so generös sind, werden sie dafür entlohnt. Diese regionale Lastverschiebung macht die Energieversorgung viel entspannter.

Übrigens, siehste die Kühe da drüben?“

„Ja, habe mich eben schon über die Viecher mitten in der Stadt gewundert? Die produzieren doch nur noch Methan, oder? Lass mich raten:  Die stehen direkt über einer Methangasabsauganlage, die mit der Quartiersheizung von dem Kindergarten da verbunden ist?“ 

„Gar keine schlechte Idee und auch nicht ganz falsch. Nee, die stehen hier eher symbolisch, damit die Besucher aus aller Welt nicht auch nach Seyda fahren müssen. Hier können die Reisewerker beim Kühegucken erklären, dass die Seydaland Unternehmensgruppe – so heißen die Bauern heute – Geld auf dem Regelenergiemarkt verdient. Dafür haben sie sich mit anderen in der Genossenschaft deutscher Grünenergieerzeuger zusammengeschlossen. Technisch funktioniert das so: Seit 2018 fahren die ihre Biogas-, Wind- und Solaranlagen als Anlagenpool flexibel, das ist die Voraussetzung. Über eine Kommunikationsschnittstelle sind sie miteinander verbunden und liefern innerhalb von 30 sec. Primärregelleistung. Damit können sie Netzschwankungen ausgleichen und mehr verdienen, als wenn man den Strom einfach so einspeist.

Das hätte ich Dir vor 10 Jahren noch nicht so flüssig erklären können.“

„Ja, hab mich gerade schon gewundert. Als Technik-Freak habe ich Dich nicht  in Erinnerung.

Und sag mal: Wie ist das denn als Kunde? Hat ja nicht jeder Lust, sich mit  dem ganzen Mist zu beschäftigen. Oder sind die hier mittlerweile alle so drauf  wie Du?“

„Neeee. Und eigentlich bin ich auch nicht so drauf, nur deinetwegen. Aber das Gute ist: Man muss sich nicht damit beschäftigen, man kann auch einfach weiter nur ins Auto steigen, die Heizung aufdrehen, alle Lampen einschalten und am Monatsende dafür zahlen. Man kann aber auch selber produzieren und einspeisen, hab ich Dir ja schon gezeigt. Und man kann Sparfuchs spielen: Dann guckst Du auf Deinen Smart Meter oder genauer gesagt: dein Smartphone piept, wenn es soweit ist oder macht es gleich selber, wenn gerade besonders viel oder besonders wenig Strom und Wärme im Angebot sind. Und wenn es gerade günstig ist, schaltet es halt die Spülmaschine an, wenn es gerade teuer ist, lädste natürlich deinen Elektro-Roller nicht auf.“

Und wenn ich den Roller aber morgen früh brauche?“

„Du kannst natürlich aussuchen, welches Deiner Geräte Du der Kontrolle des Netzmanagers unterwerfen oder wann du seinen Vorschlägen nicht folgen willst.“

Und bis ich das alles weiß und durchblicke, bin ich dann doch so superschlau wie Du?“

„Also, Du sicher nicht. Aber für Leute wie Dich gibt es den „Energie-Allrounder“: Dem kannst Du jede Frage stellen zu allem, was mit Infrastruktur zu tun hat, also nicht nur Strom, Wärme, Mobilität, sondern auch Wasser und Kommunikation. Mit dem machst Du alle Verträge. Der macht auch Tarifberatung und Energiemanagement, so wie Du es brauchst.

Und das gibt es übrigens auch für Gewerbekunden, kleine und große – die haben auch nicht die Zeit, sich kontinuierlich darum zu kümmern. Das wird ihnen abgenommen und sie sparen mit so einem Energiemanagement recht ordentlich.“

Klingt plausibel. Aber warum gibt es das nicht schon länger?“

„Dafür brauchst du in erster Linie Informationen. In Anhalt kümmert sich darum jetzt ein Datendienstleister: der sorgt dafür, dass die individuellen Kundenbedürfnisse genauer erfasst und von den Energiemanagern bedient werden.

Ja, das war’s im Wesentlichen. Hast Du jetzt einen Eindruck gekriegt?“

„Ja. Und jetzt zum Schluss sag mal: Wie findest Du das alles? Hat Dich das überhaupt mal jemand gefragt?“

„Ja, ja. Die haben da ja regelmäßig Energieforen, Denkfabriken und Innovationswerkstätten veranstaltet. In der Denkfabrik kann man nach wie vor losspinnen und neue Ideen entwickeln. Die werden dann in den Energieforen diskutiert. Und dann gab es da noch den Innovationswettbewerb Anhalt, wo man bei der Umsetzung seiner Geschäftsidee unterstützt wurde – wenn man eine hatte. Und wenn man keine hatte, konnte man immer noch in der Jury mitentscheiden, welche Geschäftsideen gefördert werden. Und schließlich ist das Ganze ein Verein – da kann man einfach beitreten und mitmachen. Am Anfang hat mich das nicht so interessiert, mein Nachbar hat mich mal zu so einem Energieforum mitgeschleppt – der war Vereinsmitglied und musste wohl drei Leute mitbringen. Aber dann habe ich tatsächlich freiwillig mitgemacht – nicht bei allem, aber immerhin.“

Ja, und wie findest das jetzt alles? Sag doch mal!“

„Ja, wie finden Sie das alles. Jetzt fragt Sie das mal jemand, nämlich die Energieavantgarde.

Was hat Ihnen an dieser Vision gefallen oder was können Sie sich absolut nicht vorstellen?

Was ist Ihre Vision für ein regionales Energiesystem in Anhalt?“

 

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Vision der Energieavantgarde Anhalt „Eine Reise ins Jahr 2025“

 

One thought on “Vision der Energieavantgarde Anhalt „Eine Reise ins Jahr 2025“

  1. Erst im November 2020 erfuhr ich von den Initiativen der Energieavandgarde Anhalt. Vier Jahre nach Erscheinen dieser für mich beeindruckenden Dokumente bedauere ich diese Verspätung.
    Es ergibt sich die Frage: Ist es noch heute möglich einen weiteren Gedanken in dieses Konzept einzubringen?

    Wir stehen bereits mit Herrn Rolf Henning in Verbindung, der Informationen über uns und unserer Handeln erhalten hat und diese in Umlauf bringt.

    Seit über 20 Jahren beschäftigen wir uns mit dem Thema Infrarotstrahlungsheizungsanlagen in Wohnhäusern und Gesellschaftsbauten. Vorteil der Infrarotheizung ist u.A. der geringere Energiebedarf im Vergleich zu klassischen Heizungen mit konventionellen warmwasserbetriebenen Heizkörpern oder auch Nachtspeicheröfen. Erreicht werden kann dies, da bei der Übertragung der Wärme durch Infrarotstrahlung keine weiteren Medien vonnöten sind und sie also quasi verlustfrei ist. Besonders achten wir darauf, die bedarfsgerechte Wärme in allen Räumen zu erhalten und ein gesundes Raumklima zu schaffen.

    Der nachgewiesenermaßen verringerte Energiebedarf bei Einsatz dieser Heizung sichert in Verbindung mit einer Photovoltaikanlage und der Kopplung kleiner Speichereinheiten eine gute Eigenenergieversorgung. Das Thema der Vernetzung unterschiedlicher Energiequellen ist ausbaufähig und passt in das von Ihnen geplante Grundanliegen (nicht nur für Bitterfeld).

    Eine gemeinsame Planung an konkreten Objekten und die Vernetzung mit weiteren Projekten, z.B. mit Windkraftanlagen, ermöglicht erst eine echte Bewertung des Vorhabens. Als Grundlage können die bei Herrn Henning vorliegenden Unterlagen dienen.

    Wir würden uns über eine konstruktive Zusammenarbeit freuen!

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