Fast hundert Jahre nachdem Walter Gropius den Bauhaus-Stil etablierte wird die einstige Kohleregion um Dessau zu einem Labor für eine bürgernahe Energiewende. Durch einen regionalen Marktplatz und mehr Beteiligung sollen die Menschen vor Ort direkt profitieren – erste Erfolge gibt es bereits.
02.05.2016 – Ferropolis bedeutet Stadt aus Eisen. Das klingt weder modern noch schick, dafür nach schwerer Industrie und harter Arbeit. In der Tat ist das Gelände ein ehemaliger Braunkohletagebau. Thies Schröder entwickelt diesen Standort seit Jahren weiter, er sucht nach einer neuen und nachhaltigen Nutzung für das Gelände. Die Herausforderung ist nicht gerade leicht. Immerhin gilt es, das kulturelle Erbe der Bergbauarbeiter zu wahren und gleichzeitig einen Schritt in die (Energie-)Zukunft zu gehen.
Auf der Kohlehalde arbeitet bereits eine Photovoltaikanlage mit 210 Kilowatt Leistung und liefert zuverlässig Strom. Beispielsweise für das jährlich stattfindende Melt-Festival. 20.000 Besucher lauschen im Spätsommer Elektro- und Indierockbands. Im vergangenen Jahr stand sogar die australische Sängerin Kylie Minogue auf der Bühne. „Genau diese Tausende von Musikfans verursachen unser seltenes Lastprofil“, sagt der studierte Landschaftsplaner Schröder. Konkret heißt das: An fünf Tagen im Jahr entspricht der Energieverbrauch der einer Kleinstadt. Die restlichen 360 Tage werden nur wenige Kilowattstunden verbraucht.
52 Prozent Ökostrom
Das Projekt Energieavantgarde Anhalt betrifft die Region um Bitterfeld, Dessau und Wittenberg. Hier leben rund 380.000 Menschen. Laut der Energymap der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie deckt das Bundesland Sachsen-Anhalt 52 Prozent seines Bedarfs mit Ökostrom. Im bundesweiten Strommix ist nur rund jede dritte Kilowattstunde grün. Die Region Bitterfeld kommt mit 65 Prozent Ökostromanteil sogar auf den doppelten Wert. Bitterfeld ist historisch zwar als Chemiestandort bekannt, aber genau aus diesem Grund entstand dort später das Solar Valley. Der einst weltgrößte Modulhersteller Q-Cells fertigte hier, bevor das Unternehmen vom südkoreanischen Konzern Hanwha übernommen wurde. Der ständige Wandel ist den Bürgern in der Region vertraut.
Bürger profitieren vom dezentralen Ausbau
Jetzt gilt es, den Wegfall der Kohlejobs aufzufangen und den Menschen neue Perspektiven zu geben. Genau deshalb könnte der dezentrale Ansatz auch besser für die Einwohner sein. Das Reiner Lemoine Institut aus Berlin ermittelte in einer Studie aus dem Jahr 2011, dass jeder Anwohner beim dezentralen Ausbau mit jährlich bis zu 80 Euro mehr profitiert. Zudem kann eine dezentrale Energieversorgung flexible Optionen besser nutzen. So wird Strom für Wärme und Mobilität genutzt oder gespeichert und eine Last einfacher verschoben. „Mit den Jahren wurde immer klarer, dass wir nicht bei einer Photovoltaikanlage stehenbleiben“, beschreibt Schröder die Entwicklung bei Ferropolis. Eine autarke Versorgung mit Batteriespeichern ist aber für das Gelände nicht wirtschaftlich. So erkannten die Initiatoren um Schröder die gemeinsamen Anliegen mit der Stiftung Bauhaus: Beide Parteien waren an einer Transformation interessiert, die nicht nur die Wirtschaft, sondern gerade auch die Menschen und die Gesellschaft in den Fokus nimmt.
Marktplatz vernetzt regionale Akteure
Anfang 2015 wurde „Energieavantgarde Anhalt“ als Verein gegründet. Schröder ist seitdem Geschäftsführer. Mitglieder sind Privatpersonen, die Sparkasse Dessau, die Stiftung Bauhaus, die Dessauer Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft und Köthen Energie sowie Solarmodulhersteller Calyxo aus Thalheim. „Der Verein selbst wird nicht in Technologie oder konkrete Projekte investieren, das werden die Unternehmen selbst stemmen“, erklärt Schröder. Bis 2018 soll es sichtbare Ergebnisse geben. Oberste Priorität hat dabei der Aufbau eines regionalen Energiesystems, das mehr und mehr auf Erneuerbaren Energien fußt. Parallel soll immer auch die Wende hin zu einer ökologischen Wärme- und Kälteversorgung mitgedacht werden, genauso wie eine grünere Mobilität mit Ökostrom.
Der Marktplatz würde die regionalen Akteure stärker untereinander vernetzen. Gleichzeitig muss das Konzept künftig offen für künftige Teilnehmer bleiben. Ziel ist es, Bürger stärker einzubinden. Ein regionaler Marktplatz könnte Prosumenten eine ganz andere Rolle zuweisen. Denn Fakt ist, dass immer mehr Bürger sowie Firmen aus Handel und Gewerbe selbst Strom für den eigenen Bedarf produzieren. Der Verein will und muss die Einwohner über ihre zukünftigen Aufgaben und Möglichkeiten informieren. Nach den ersten selbst veranstalteten Energietagen werden Schröder und Co nun immer häufiger auf Veranstaltungen und zu Vorträgen eingeladen, um ihr Projekt vorzustellen.
Wertschöpfung vor Ort fördern
Für die Akzeptanz der Energiewende ist es wichtig, dass möglichst viel Ökoenergie regional verbraucht wird und die Wertschöpfung zu einem möglichst großen Anteil vor Ort generiert wird. Die Lutherstadt Wittenberg verbraucht jährlich rund 600 Gigawattstunden, die energieintensive Chemieindustrie in Bitterfeld zieht 884 Gigawattstunden aus dem Netz. Ende 2015 waren laut Übertragungsnetzbetreiber 50 Hertz Ökostromanlagen mit rund 6,8 Gigawatt Leistung im Bundesland Sachsen-Anhalt installiert.
Das Gros entfällt dabei auf Windenergie. „Die Umstellung hin zu Erneuerbaren Energien kommt so oder so“, meint Schröder. Aber ein vollständig liberaler Markt, in dem sich jeder nur um sich selbst kümmere, könne nicht das Ziel sein. „Das zementiert soziale Unausgewogenheit.“ Eine Gesellschaft, in der ein Drittel der Einwohner in Energiearmut lebe, gelte es zu verhindern, betont Schröder. Die Politik der Bundesregierung zielt derzeit allerdings in eine andere Richtung: „ Sie fokussiert sich mehr auf einen europäischen Energiemarkt, als auf die regionalere Gestaltung der Märkte“, kritisiert Schröder. Umso stärker wächst das Interesse an einem Modell der regionalen Versorgung bei den kommunalen Versorgern. Die Stadtwerke Dessau wollen 2023 aus der Kohlestromerzeugung aussteigen und suchen deshalb Alternativen.
Blaupause für das künftige Energiesystem
In einer Crowdfunding-Aktion sammelt der Verein derzeit Gelder, um ein oder mehrere Photovoltaikanlagen auf dem Dach der Hochschule in Dessau zu installieren. Die beteiligten Bürger sollen aus der Region kommen und so direkt partizipieren. Von den Erfahrungen aus dem Projekt sollen dann möglichst viele Akteure profitieren. Der Verein hat zudem eine regionale Merit Order errechnen lassen. Diese sortiert die Energieerzeugungsanlagen gestaffelt nach den Kosten der Stromproduktion. So lässt sich eine Art Ausbaupfad ableiten. Beispielsweise ist Schwachwind demnach schon ab 2018 der günstigste Energieträger der Region. Wind wird in der Region die Kohle der Zukunft sein. Auch Unternehmen der Ökostrombranche und Speicherhersteller wie Tesvolt aus Wittenberg sind der Initiative Energieavantgarde beigetreten. Es gab durchaus Vorbehalte, beispielsweise gegenüber der RWE Stiftung: Wie ernst würde sie es mit einer Erneuerung des Energiesystems meinen? Diese Frage steht weiterhin im Raum, andererseits gibt die Stiftung des Energiekonzerns einen erheblicher Teil der Gelder. Die Energieavantgarde Anhalt bezeichnet sich auch als Reallabor. Sie gehört zum Schaufensterprojekt Windnode, eines von insgesamt fünf geförderten Vorhaben des Bundeswirtschaftsministeriums, die je eine Blaupause für das Energiesystem der Zukunft abbilden. Der Anspruch der Avantgarde wird dann nicht mehr nur mit Dessau und der Bauhausarchitektur von Walter Gropius verbunden sein. Sondern mit Ferropolis und einer Region, die sich intelligent und dezentral mit Ökostrom versorgt.
Niels Hendrik Petersen