“Auch nach dem Kohleausstieg noch Strom verbrauchen”

Diskussionen über die Energiewende im Allgemeinen und die Energiekonzepte des Landes im Besonderen werden in Sachsen-Anhalt meist sehr emotional geführt. Davon weiß Marion Schilling, Leiterin der Regionalen Planungsgemeinschaft Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg, ein Lied zu singen. Zusammen mit gut dreißig anderen „nächsten Angehörigen“ der Energiewende, ist sie der Einladung der Energieavantgarde Anhalt ins Dessauer Umweltbundesamt gefolgt, um sich ein Bild vom interaktiven Energieatlas Anhalt zu machen.

„Wenn wir Gegensätze überwinden wollen, brauchen wir eine Versachlichung der Debatte,“ sagt Schilling. Denn nicht nur Bürger, Politiker und Investoren streiten über den richtigen Weg. Selbst im Ministerium für Umwelt, Landschaftsschutz und Energie wohnen die verschiedensten Herzen. „Da sind Naturschützer, Tierschützer, Landschaftsschützer, aber eben auch die, die sich um den Ausbau erneuerbarer Energien kümmern sollen. Je nach Interessenlage kommen da immer unterschiedliche Ergebnisse“. 

„Die Konkurrenz bei der Flächennutzung ist sehr hoch“

Genau hier setzt der interaktive Energieatlas[1]an. „Das Tool für die Region Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg ermöglicht, Akteure in der Region an energiewirtschaftlichen Fragestellungen zu beteiligen“, erläutert Mascha Richter vom Reiner-Lemoine-Institut, welches den Energieatlas entwickelt hat. „Es geht darum, wie die die Region sich mit einem möglichst hohen Anteil an erneuerbaren Energien versorgen kann unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Flächennutzung. Da gibt es eine große Konkurrenz der Nutzungskonzepte.“ 

Die finanziellen Mittel dafür stellte das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Kopernikus-Projekts ENavi[2], kurz für “Energiewende-Navigation”, bereit. Auch in den Ministerien wächst das Bewusstsein dafür, dass Transparenz und Beteiligung darüber entscheiden, ob die Energiewende überhaupt noch zum Erfolg gebracht werden kann.

Auf den „Navigationskarten“ verzeichnet ist zum einen der Ist-Zustand. Welche Erzeugungsanlagen welcher Art und Größe stehen schon heute an welchem Ort, wie gut passen Erzeugung und Verbrauch in der Region überein? Darüber hinaus ermöglicht der Atlas, verschiedene Szenarien zu erproben. Jeder kann seine eigenen Vorstellungen visualisieren, wie das Ziel eines 100% erneuerbaren Energiesystems erreicht werden kann. Wieviel Energie kann und muss eingespart werden? Können Biogasanlagen flexibler eingesetzt werden? Wieviel Flächen stehen für Solaranlagen zur Verfügung? Gibt es überhaupt noch Platz für Windparks, ohne Wohn- und Landschaftsschutzgebiete zu beeinträchtigen?

„Extrem hilfreich“

Marion Schilling sieht einen großen Nutzen darin, dass man nun genau darstellen kann, wieviel Energie man für die Region braucht und wie man sie decken könnte. „Irgendwie ist ja klar, dass wir auch nach dem Kohleausstieg noch Strom verbrauchen werden und auch Heizung haben wollen“, sagt sie. Dabei könne man ja erst einmal von der Selbstversorgung der Region ausgehen. Dann sei es natürlich noch einmal eine andere Entscheidung selbst auch Energie exportieren zu wollen.  „Wenn man jetzt das Energiekonzept des Landes mit diesem Instrument veranschaulichen kann, ist das extrem hilfreich. Wir sollten es daher ganz intensiv nutzen“, empfiehlt Schilling.  

Dass die BürgerInnen bei der Energiewende ein Wort mitzureden haben, sieht man vor allem beim Thema Windenergie. Eine repräsentative Forsa-Umfrage bestätigte zuletzt, dass 83 Prozent der Befragten die Nutzung und den Ausbau der Windenergie an Land im Rahmen der Energiewende als „wichtig“ oder „sehr wichtig“ erachten. Und dennoch gibt es bei konkreten Projekten immer wieder Streit.  

Verschiedene Optionen objektiv abschätzen

Nach der Erfahrung von Dr. Matthias Bruhn liegt es häufig daran, dass objektive Informationen fehlen. Der gelernte Ingenieur für Energietechnik hat selbst an der Projektierung vieler Energieanlagen mitgewirkt und ist nun als Mediator in der Energiebranche tätig. Auch er freut sich über das neue digitale Instrument. Der interaktive Energieatlas schaffe Transparenz. „Ich hoffe, dass man Argumente objektiver abwägen kann, wenn man die Möglichkeit hat, verschiedene Optionen für die Energieversorgung in der Region gegenüber zu stellen. Und dass man darüber auch ins Gespräch kommt.“ 

Bruhn ist sich zwar noch nicht sicher, ob er den Energieatlas in seiner eigenen Arbeit verwenden kann. Trotzdem findet er, dass sich der Besuch des Workshops für ihn schon gelohnt habe: „Ich habe sehr viel aus den Diskussionen mitgenommen. Und wenn wir hier in der Region eine Mediation zu machen haben, werden wir sicherlich damit arbeiten.“

Wie geht es weiter?

Momentan bezieht sich der interaktive Energieatlas primär auf Stromerzeugung und -verbrauch. Inspiriert von den Möglichkeiten, konnten sich viele Workshop-Teilnehmer noch weitergehende Funktionen vorstellen. Ganz oben auf der Wunschliste stehen die Berücksichtigung des Wärmesektors und des Verkehrssektors bzw. wie diese Sektoren interagieren. 

Gut vorstellen können sich das auch die zwei Projektpartner. “Wir freuen uns über die Rückmeldungen und das Interesse. Wir wollen gemeinsam mit Partnerorganisationen wie der Energieavantgarde Anhalt Wege finden, das Tool weiter zu entwickeln und um zusätzliche Funktionen zu erweitern“, erklärt Richter.  

Mediator Bruhn hat über die vielen Daten und Algorithmen hinaus noch einen weiteren Wunsch „Für meine Arbeit wäre es wichtig, das nicht nur elektronisch zu haben, sondern auch einen Ansprechpartner, der das Tool anwenden und in einer Versammlung Fragen beantworten kann.“

Kontakt Energieavantgarde: Rolf Hennig, hennig@energieavantgarde.de

Nützliche Links:


[1]Die offizielle Bezeichnung für das Tool im Rahmen des Kopernikus-Projekts ENavi lautet  Stakeholder Empowerment Tool (StEmp)

[2]https://www.kopernikus-projekte.de/projekte/systemintegration